Der Rundblick

 

Das Dorf mit seinen 72 oder 73 Häusern lag halb versteckt am Rande des Thüringer Beckens.

Da von der Ferne kaum wahrnehmbar, war es wohl von den Kriegen der Zeit wenig berührt.

Lag es doch auch an keiner Hauptverkehrsader – zu keiner Zeit, wohl aber verkehrstechnisch gut erschlossen – schon immer, wie die an den Dorfausgängen stehen gebliebenen steinernen Wegweiser mit eingehauenen Pfeilen , Orts- und Stundenangaben bewiesen.

Von Ost nach West durchzog der Naumburger Weg den Ort – ein alter Marschweg und von Süd nach Nord führte die Straße von der nahegelegenen Stadt zum Schloß Beichlingen. Schon seit dem Mittelalter Sitz der mächtigen Beichlinger Grafen.

Die Zeitangaben auf den Wegweisern bezogen sich auf Fußmarschzeiten bis zu den angegebenen Zielen. Obwohl die Menschen früher kleiner gewesen sein sollen, müssen sie besser zu Fuß gewesen sein ( ich habe es ausprobiert) oder die Wege waren in einem besseren Zustand als zu meiner Zeit.

Möglicherweise waren sie nicht so von tiefen Spurrinnen durchzogen, hervorgerufen durch schweres landwirtschaftliches Gerät oder auch durch „Russenpanzer“ und anderem militärischen Fahrzeugen, die meist die alten preußischen Marschwege oder die alten Holztransportwege benutzten, die zu den nahen Wäldern führten, welche die nördlich gelegene Hügelkette von Finne und Schrecke bedeckten, wo der Standort der "Besatzer" oder auch "Befreier" lag, wie man die sowjetischen Streikräfte nannte, je nachdem welcher politischen Orientierung man angehörte.

 

Das Dorf hatte nur einen Dorfeingang – das war die südlich von der Stadt herführende Straßeneinmündung in Richtung Schloß Beichlingen.

Das war auch die einzige Durchgangsstraße des Dorfes. Eigentlich machte die Straße nur einen großen Bogen um den westlichen Ausläufer des Dorfes. An der Durchgangsstraße lag direkt nur ein einziges Haus - die Schenke, früher genannt: „Gasthaus zum Deutschen Haus“. So heißt sie wohl auch heute wieder.

Zu meiner Zeit hieß sie meist offiziell, wie auch das Straßenschild es auswies: „Konsum-Gaststätte“, umgangssprachlich die „Kneipe“, der “Laden“ oder der “Saal“ genannt, je nach dem, was für eine Priorität der Einzelne den verschiedenen Einrichtungen zuordnete, die alle in diesem Gebäude untergebracht waren.

Sie erinnern sich – das Gasthaus bestand aus mehreren Gebäudeteilen.

Eine breite, mit einem Rundbogen übermauerte vierstufige Sandsteintreppe führte zu einer zweiflügeligen Eingangstür. Ein Flügel, der rechte, war immer offen, der zweite Flügel wurde nur bei Kino-, Tanz- oder anderen Veranstaltungen, also immer dann , wenn „etwas im Dorf los war“, geöffnet.

Durchschritt man die offene Tür stand man in einem düsteren kleinen Flur. Rechts war die Tür zur „Kneipe“, links die Tür zum „Laden“ und geradeaus eine große zweiflügelige Pendeltür, hinter der sich ein großzügiger Flur befand, der größte, den ich kannte, außer dem der „Zentralschule“ in der Stadt.

Von hier ging es über eine breite steinerne Treppe mit Geländer und Holzgriff über zwei Podeste zum Saal.

Links im Flur befand sich ein Büro, welches anfangs noch als Postagentur mit dem einzigen öffentlichen Telefon im Dorf, genutzt wurde.

 

Halt – nicht ganz richtig – der Fleischer auf dem Anger hatte ebenfalls ein Telefon und neben seiner Ladentür hing auch das weiße Schild mit roter Aufschrift “Öffentlicher Fernsprecher“, welches auch neben der Eingangstür zur Schenke angebracht war.

 

Später wurde hier das „LPG-Büro“ eingerichtet, welches die neue Landwirtschaft verwaltete – die Arbeitseinheiten, das Deputat, die Genossenschaftsanteile und Einlagen, aber davon verstand ich nicht allzu viel.

Aber eines weiß ich noch genau. Die Auszahlung des Lohns für geleistete Stunden, sei es beim Rüben verziehen oder für Erntehilfe erfolgte in diesem Büro, und es war angenehm mit eigenem Geld eine Brause oder später ein Bier oder einen „Spezi“ - das war damals grüne Waldmeisterbrause aus dem Fass mit einem Schuss Bier – in der „Kneipe“ genüsslich zu trinken und dabei die flachsigen Sprüche der Anwesenden zu empfangen.

 

Wie gesagt, die Durchgangsstraße macht nur einen großen Bogen um die Schenke und schon war man am Dorfausgang Richtung Schloß Beichlingen.

 

In meiner Betrachtungsweise und, wie ich mich erinnere, auch der, der Dorfbewohner hatte das Dorf nur einen Dorfeingang und sonst nur Dorfausgänge.

Dies war eine Frage des Standpunktes.

Vom Dorf aus gesehen gibt es eigentlich nur Ausgänge, es sei denn man erkennt an, dass es außerhalb des Dorfes noch andere Menschen und Orte gibt, für die diese Zugänge Eingänge zum Dorf sind.

Die Bezeichnung „Dorfeingang“ für den Zugang von der Stadt aus, akzeptiert die Tatsache, dass von der Stadt die meiste Bewegung ins Dorf hereinkam.

Für die Leute aus den umliegenden Orten wechselten sicherlich die Bezeichnungen „Dorfeingang“ oder „Dorfausgang“ jeweils in Abhängigkeit davon, woher sie kamen und wohin sie wollten.

Für uns Dorfbewohner war die Zweckbestimmung und Bezeichnung jedoch eindeutig und nicht vom Standpunkt abhängig.

 

Wir sind also nach ein paar Schritten schon am Dorfausgang.

Die Durchgangsstraße nach Schloß Beichlingen vollzieht hier eine Linkskurve und führt nun lang geradeaus, leicht ansteigend über den Ausläufer des Roßberges , dann wieder abfallend die Klinge überquerend, steil aufsteigend über den Beichlinger Berg in den Nachbarort.

 

Geradeaus verläuft am Fuße des Roßberges der Burgwendener Weg, der nach etwa 300 Metern rechts abbiegt und weiter unterhalb des Herrenberges entlang führt , um schließlich vor dem Burgwendener Hügel links in den Holzweg einzumünden , der weiter nach Burgwenden, dem Nachbarort am Rande der Wälder und Forste der Schmücke und Finne führt.

Bis die Russen mit ihren schweren Militärfahrzeugen den Holzweg fast unpassierbar machten - für sie war dieser Weg die kürzeste Verbindung von ihrem Standort in den Wäldern der Finne zu den nächsten südwestlich gelegenen Städten - fuhren hier insbesondere im Winter und zeitigem Frühjahr die schweren Holzfuhrwerke der Bauern , denn ein großer Teil der Wälder war Bauernholz, ins Dorf und weiter in die Stadt zur Eisenbahnstation.

Holz war zu dieser Zeit genauso lebenswichtig, wie etwas zu essen, für das Land, die Städter, auch für unsere Familie.

Nach dem langen beschwerlichen Weg in der Kälte und Nässe machten die Fahrzeuglenker oft Halt am Dorfeingang, um in der nahen Schenke sich aufzuwärmen - äußerlich am warmen Platz beim Kachelofen, innerlich mit einem starken Grog.

Die dampfenden Pferde bekamen ihren Futtersack und wurden mit einer Filzdecke abgedeckt, damit sie ausgeruht und gestärkt den letzten Abschnitt des Weges bis in die Stadt schafften.

 

Auch die Russen standen oft mit ihren Fahrzeugen an der Wegeinmündung des Burgwendener Weges bis zur nahegelegenen Feldscheune des Bauern Schneider.

Wenn sie nicht gerade mit ihren legendären T34-Panzern dastanden, vor denen wir gewaltigen Respekt hatten, sondern mit den meist etwas eigentümlichen Lastwagen, Panzerspähwagen oder Jeeps, die eigentlich keine Jeeps waren, zogen uns diese "Besucher" immer mit einer Mischung von Neugierde, Interesse , aber auch Angst an.

Wenn sie Manöver hatten oder einfach nur da waren und tagelang als Vorposten für die nachrückenden Einheiten oder Einweiser für die irgendwann auftauchende Fahrzeugkolonnen warteten, versammelten wir Kinder uns bei den Fahrzeugen und versuchten uns vorsichtig den Soldaten zu nähern.

 

Obwohl alle in der Schule nun Russisch lernten, konnte sich kaum jemand mit den Soldaten verständigen.

Nur der Umsiedler Hauser, der aus Ostpreußen kam, konnte halb polnisch, halb russisch mit den Russen "herum polaken", wie wir damals sagten.

Er war es auch, der es ermöglichte, daß es in der Schenke beim Wodka, den die Offiziere aus einem halb gefüllten Bierglas tranken, zu einem freundlichen "Na sdarowje - Prost" zwischen den anwesenden Einheimischen und den Fremden kam oder dass ein Tausch Kartoffeln gegen Benzin zustande kam, denn alle Russen -Fahrzeuge waren "Benziner und Benzin konnte jeder gebrauchen , denn diesen gab es wie vieles andere nur rationiert gegen "Benzinmarken".

 

Wir Kinder sahen mit Erstaunen, wie die Soldaten sich aus einem Stück "Pravda" und einigen Krümeln Machorka eine "Papirossy" drehten, die wir auch einmal zum probieren angeboten bekamen.

Die Größeren von uns waren stolz, wenn sie trotz Husten und Fast- Erbrechen, dieses "Kraut" zu Ende geraucht hatten.

Es gab auch einmal Spaß, wenn einer der Soldaten, zu verstehen gab, dass er gern einmal ein Stück mit dem Fahrrad fahren möchte, welches fast jeder von uns Kindern besaß.

Meist machten sie so eine komische Figur darauf, dass wir alle - Kinder, Erwachsene und die Russen - herzlich darüber lachten.

 

Das war das Stückchen Normalität, Miteinander und "Kulturaustausch", welches durch den noch nachwirkenden Krieg, durch die Besatzungsverhältnisse nach dem Krieg und die bestehenden Vorbehalte und Distanz, um nicht zu sagen, Abneigung, möglich war.

 

Es waren aber nicht nur die sprachliche Barriere, die bestand, viel größer war die Barriere in den Köpfen, zu tief waren die Wunden des letzten Krieges auf beiden Seiten, zu unverständlich war gerade für die Erwachsenen und Alten die parteiliche Inanspruchnahme: Die Russen waren die guten Soldaten , die Befreier und die Deutschen waren die schlechten Soldaten, die Mörder.

Die toten Väter, Männer und Söhne, die viele Familien im Dorf zu beklagen hatten, die Erfahrungen der überlebenden aus den Kämpfen an den Fronten des Krieges, die in Gesprächen hinter vorgehaltener Hand in den Familien, nie öffentlich, ausgewertet wurden.

Die fast unglaublichen Schicksale der Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft, die als Ungerechtigkeit, teils als Verbrechen empfundene Schmach, Beleidigungen, Diebstähle der Soldaten im Siegestaumel des Jahres 1945, die in unserer Gegend , auch in unserem Dorf zweimal durchlebt werden mussten . Erst im April beim Einmarsch der Amerikaner und dann im Juli in Erfüllung des Abkommens von Jalta bei der Besetzung durch die Russen.

Auch die Verantwortung der Russen für die Lasten der Reparation, die einseitig der russischen Besatzungszone aufgebürdet wurden, für die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in unserem Teil des besiegten Deutschlands, welches keinen Marschall-Plan kannte und damit sich schon merklich vom "goldenen Westen" unterschied - das alles stand als Barriere auf der Seite der Dorfbewohner, wenn sie Kontakt mit den Russen hatten.

Welche Barrieren auf Seiten der Russen standen, konnte ich damals nicht erkennen.

Erst viel später durch mein Aufenthalt in Leningrad und das Kennenlernen der russischen Menschen und der russischen Seele, aber auch der Stalin'schen Verhältnisse in Partei, Staat, Wirtschaft und Armee wurden mir auch viele Gründe für das Verhalten der russischen Soldaten - der "Befreier" klar, die vielfach Gefangene und Unterdrückte der eigenen Verhältnisse waren.

 

Wie schon erwähnt, war Holz in dieser Zeit neben dem Notwendigem zum Essen und einem Dach über den Kopf auch für unsere Familie - überlebenswichtig, denn Brennstoffe waren genauso rar und rationiert wie Lebensmitte1.

Brennstoffe, das war damals die billige, auf Bezugsscheine zugeteilte, nasse, später nach Lagerung im Keller zerbröckelnde, beim Benutzen nur schwer brennende, rußende und nach Schwefel riechende Rohbraunkohle.

Das waren die teueren ebenfalls zugeteilten Braunkohlebriketts, die nie reichten und für die teueren "freien" Briketts fehlte das Geld in den meisten Familien, also wurde Holz zum Anzünden der schwer brennenden Rohbraunkohle undzum Verfeuern gebraucht.

Nur so konnte die notwendige Wärme in den Aufenthaltsräumen und das Feuer in den Küchenherden zum Kochen, Backen und Braten, wenn es gerade einmal Braten in der Weihnachtszeit gab, gesichert werden.

Für 50 Pfennig konnte man sich einen "Holzsammelschein" beim Revierförster in Beichlingen erwerben, der berechtigte einen Handwagen Sammelholz - Bruchholz, absterbende Fichten oder Wildwuchs im Forstrevier zu sammeln und zu schlagen.

Holz sammelten wir immer im Beichlinger Wald, nicht im Burgwendener Holz, das meist Bauernholz war.

Der Beichlinger Wald war zumeist ehemaliger Besitz des Beichlinger Grafen, des Baron von Werthern, jetzt staatlich verwalteter Forst.

Auch war das Burgwendener Holz zum größten Teil Sperrgebiet- dort hatten die Russen in der Nähe ihren Standort. Sie benutzten dieses Gebiet mehr als ihr Jagd- und Versorgungsgebiet, denn als übungs- und Schutzgebiet .

Zwar war der Weg zum Beichlinger Wald etwas weiter und bergiger, aber führte weitgehend über befestigte Landstraße und das war weniger beschwerlich und auch war die Gefahr geringer, dass der wertvolle und unentbehrliche Handwagen voll beladen auf dem Rückweg zu Bruch ging.

Es war immer wieder beeindruckend nach dem mühevollen Aufstieg von Schloß Beichlingen herkommend das Plateau des Beichlinger Berg es erreicht zu haben - den höchsten Punkt weit und breit.

Von hier konnte man bei guter Sicht das gesamte Thüringer Becken überblicken.

 

Im Rücken – nordwärts lagen die Wald bedeckten Berg- und Hügelkette der Schrecke, Schmücke und Finne.

Vor den nahem Wald ragte imposant, Macht und Größe ausstrahlend das Schloß zwischen den Bäumen hervor. Vom Dorf Beichlingen sah man nicht viel, da es sich tief unten im Talkessel versteckte.

Nordwestlich sah man die Thüringer Pforte mit den Sachsenburgen, dahinter entdeckte man den Kyffhäuser mit seinem undeutlich erkennbaren, aber alles überragenden Denkmal zu Ehren von Kaiser, Volk und Vaterland, wie man das bei einer unmittelbaren Besichtigung vor Ort lesen kann.

Jedes mal wenn ich diese Denkmal entdecke, erinnere ich mich mit Schmunzeln an die Lektüre einer Anzeige im "Cölledaer Anzeiger" aus den 20iger Jahren, der eine Zeit lang als Toilettenpapier - denn Toilettenpapier war genauso Mangelware wie viele andere Gebrauchswaren- auf dem Gemeinschaftsklo im "kleinen Haus" lag.

Da war zu lesen: "Gasthaus zum Deutschen Haus - Battgendorf, Fremdenzimmer, gut bürgerliche Küche - am Fuße des Kyffhäusers gelegen".

Ein maßlos übertriebener Werbespruch, denn vom Gasthaus konnte man keinen einzigen Zipfel des Kyffhäusers sehen oder erahnen.

Heute bedauere ich unsere damalige barbarische Kulturlosigkeit, die Mißachtung alles Alten und Aufbewahrenswerten, aber die Not und der Mangel bestimmte das Leben.

Es war bei weitem kulturvoller und hygienisch notwendig sich den Hintern mit einer interessanten Lektüre abzuwischen, als es aus Achtung vor den Zeitzeugnissen der „goldenen 20iger Jahre“ zu unterlassen.

Wie gesagt, Toilettenpapier war Mangelware wie viele andere Produkte auch. Außerdem eine unnötige Geldausgabe, wenn es anderes geeignetes Papier im Hause gab, daß man schon einmal bezahlt hatte.

Approbo, geeignetes Papier – der „Cölledaer Anzeiger“ war alles andere als geeignet. Es war ja „Friedensware“, glattes, weißes Papier und nicht solch graues und raues Papier, auf welchem damals die Tageszeitungen gedruckt wurden.

Nach dem Lesen musste man die Seite aus dem Sammelband reißen, die Seite mehrfach in den Händen zerknüllen, dann in Stücke reißen und nur so war ein einigermaßen sauberer Hintern gesichert.

Manchmal ging es auch daneben.

Aus diesem Grund und nicht etwa aus Achtung vor der Geschichte zog ich es deshalb vor, wenn möglich, aktuelle Zeitungen zu diesem Zwecke zu nutzen.

Ich verstand später auch bestens die politische Deutung des Ausspruches: „Das kannst Du Dir an den Arsch wischen!“, wenn bestimmte Artikel der führenden Zeitung im Land, dem „Neuen Deutschland“ im Tagesgespräch so bewertet wurden.

 

Wenden wir uns wieder dem Rundblick vom Beichlinger Berg zu.

 

Westlich vor den Höhenzügen der Schrecke lag der reizvolle, immer fremd wirkende, wie nicht in die Landschaft passende Segelberg. Er stand wie ein vergessener Kegelstumpf auf der wie ein runder Tisch wirkenden weiten Ebene des Thüringer Beckens.

Wenn man den Blick weiter Richtung Süden wendete, ragte nur der spitze Kirchturm der schönen Altenbeichlinger Kirche - es war die Stiftskirche der Grafen von Werthern hinter dem Berg hervor.

In der Ferne sah man die Silhouette der Stadt Weißensee, dahinter die Höhenzüge des Possens und der Hainleite.

Weiter südlich in gleicher Richtung entdeckte man die Schornsteine der Industrie – und Kreisstadt mit dem Rheinmetallwerk, „Rhein’sche“ genannt, mit dem Dachziegelwerk Martini, dessen Ziegel die Dächer der meisten Häuser in den Dörfern der Umgebung bedeckten.

Etwas südlicher konnte man bei guter Sicht den Thüringer Wald mit dem Inselsberg, zwar nicht der höchsten, aber der bekanntesten Erhebung dieses "grünen Herzes der Republik" sehen. Bei schlechter Sicht sah man nur die Fahner'schen Höhen mit ihren Obstplantagen.

Links davor die war schemenhaft die Bezirkshauptstadt zu erkennen.

Blickte man direkt nach Süden sah man unmittelbar auf die naheliegende Stadt, dahinter das Weimarer Land mit dem sich in Richtung Bezirkshauptstadt ausdehnenden, geheimnisumwitterten Buchenwald.

Der Blick schwenkt weiter nach Südosten.

Da sehen wir den Backlebener Berg, der weiter als Neuhäuser Hügel verläuft und uns den Blick zu den Städten und Dörfern in dieser Richtung versperren.

Nur die weit ausgebreiteten Wiesen mit den vier Mühlen an der Schafau sind auszumachen und ein Stück vom Nachbardorf Backleben.

Ganz dem Osten zugewandt sehen wir die Finnewälder bis zum Kurort Rastenberg, der aber hinter den Hügeln und Wäldern versteckt bleibt.

Hinter Backleben erhebt sich vorgelagert als einzelner bewaldeter Hügel - das Meisel.

ähnlich wie der Segelberg in der entgegengesetzten Richtung passt er nicht so recht in die sonst so ausgeglichene, harmonische, durch ineinander übergehende Hügelketten begrenzte Landschaft.

Er lag wie ein großer Brotleib am Rande des großen runden Tisches - dem Thüringer Becken.

Vom Dorf sah man nicht allzu viel - den Dorfeingang von der Stadt mit den Dorfwiesen und dem neuen Friedhof, die wenigen Häuser am Mergelweg, die Schenke, die Kirche mit der kugelförmigen, weiter zu einer hohen Spitze auslaufenden Kirchturm, die Dächer der höheren Häuser, darunter das des Gutshauses.

Der Rest vom Dorf wurde vom Roßberg verdeckt.

 

Deutlicher und vollständiger sah man die dahinter liegende Stadt.

Die Stadt war fast kreisrund - in der Mitte das Rathaus mit dem zwiebelförmigen Rathausturm, direktlinks daneben der wesentlich höhere spitze Turm der Wippertikirche.

Etwas im Hintergrund der Vorratsturm des ehemaligen Klosters und daneben die klein wirkende katholische Kirche, die uns fremd war.

Waren es doch fast ausschließlich die Aus- und Umsiedler, die dieser Glaubensrichtung nachgingen, die Einheimischen waren in ihrer Mehrzahl evangelischen Glaubens

Ansonsten konnte man am linken Stadtrand die Zentralschule mit den ersten Nachkriegsbauten , das Bahnhofsviertel mit den dahinter liegenden Bahnhofsgebäuden und Gleisanlagen, die langgestreckte Siedlung und das Backlebener Tor mit einem Stück noch erhaltener Stadtmauer sehen.

Die Stadt war geprägt als Jahrhunderte lang dahin schlummerndes Ackerbürgerstädtchen, welches in der Zeit der Industrialisierung beziehungsweise in der Neuzeit zwei Entwicklungsschübe erhielt.

Einmal durch die Entwicklung des Eisenbahnwesens - erst kam 1875 die Bahnstrecke " Straußfurt - Großheringen", genannt die "Pfefferminzbahn", übernommen vom Drogen- , insbesondere dem Pfefferminzanbau, den Stadt schon früher deutschlandweit bekannt gemacht hatte.

Später war die Stadt auch Ausgangspunkt der schon erwähnten "Finnebahn", die auch im Dorf einen Haltepunkt hatte, der aber , wie wir schon wissen , nach dem reparationsbedingten Abbau des Teils der Finnebahn, das bis zum Standort der Russen in den Finnebergen reichte, von einem Umsiedlerehepaar bewohnt wurde.

Die entsprechenden Bahnsteige und Hinweisschilder waren auf dem Bahnhof der Stadt noch vorhanden, einzig die Treppen, die vom Bahnsteigtunnel - so etwas hatten sonst nur Großstädte - zu den verlassenen , nun gleislosen Bahnsteigen führten, waren mit einem Holzverschlag abgesperrt.

Die Natur machte sich auf dem sonst unnötigen Gleiskörper breit, erst mit Moos, dann mit Gräsern, die sich durch die Schottersteine zwängten, später mit hohen Disteln, Brombeergesträuch und Holunderbüschen, so das später nur noch die Hinweisschilder und die leeren Bahnsteige Auskunft über die eigentliche Zweckbestimmung gaben.

Jedes Mal, wenn ich auf dem Bahnsteig stand, um in früher Kindheit mit den Eltern zusammen einen Besuch bei den Großeltern oder Verwandten in der Heimat der Eltern zu machen, oder später, als ich täglich mit dem Zug in die Kreisstadt zur Oberschule fuhr, habe ich diese Kraft der Natur bestaunt und bewundert.

Zeigte sich doch darin, dass die Natur die Kraft zur Beseitigung von urbanen und zivilisatorischen Spuren des Menschen hat, wenn diese nicht mehr zweckbestimmt genutzt werden.

 

Den zweiten Entwicklungsschub brachte eine strategische Fehlentscheidung des "Reichsluftfahrtministeriums".

Man erzählte, dass der "dicke" Göring selbst diese Entscheidung getroffen haben soll, der nach Kriegsende noch während der Nürnberger Prozesse feige den Freitod wählte, indem er eine Zyankalikapsel schluckte.

Da die Wiesen und Feuchtgebiete rund um die Stadt durchschnittlich an 234 Tagen im Jahr mit Dunst oder Nebel- meist Hochnebel, verdeckt waren, glaubte man, vor den Augen des Feindes geschützt, einen idealen Standort für einen Feld- und Transportflughafen gefunden zu haben.

Also wurde der Flughafen gebaut.

Infolgedessen kamen viele Bauarbeiter, sonstige Angestellte, aber insbesondere die Flughafenbesatzung in die Stadt.

Dadurch entstanden die Bahnhofssiedlung mit vielen Wohnungen für die Spezialisten und der Ortsteil Kiebitzhöhe mit der Flughafenkommandantur, den Kasernen für die Besatzung und Wohnungen für die Offiziere.

Vom Flughafen konnte man nicht mehr viel erkennen außer den weitgestreckten Wiesen des Flugfeldes bis nach Leubingen, eben dem Dorf, zu dem der westliche Ausfallweg aus dem Dorf führte.

Dort standen noch einige Flugzeughallen, jetzt schwer von Polizei bewacht als Lagerhallen eines Teils der "Staatsreserve" des kleinen Arbeiter- und Bauernstaates genutzt.

Die Flugzeughallen und zwei Kasernen auf der Kiebitzhöhe wurden 1946 auf Initiative des "scheinkommunistischen " Bürgermeisters der Stadt und "Revolluzern" gesprengt.

"Nie wieder Krieg !" - diese Losung stand an vielen Häusern und Scheunen. Diese Worte entsprach dem Fühlen und Wollen fast aller, aber sie diente auch der moralischen Rechtfertigung für unsinnige Aktionen, wie der Sprengung von unbeschädigten und nutzbaren Gebäuden, wo rundherum so viele Zerstörungen die Wirtschaft und das Leben fast erdrückte.

Die Sprengung wurde wider besseren Wissens angeordnet und vollzogen und das trotz großer Wohnungsnot, trotz des Fehlens von Lagerflächen und möglicher Produktionsstätten.

Das demonstrative Vernichten eines eigentlich durch die politische und materielle Kraft und Macht der Sieger nicht mehr bestehenden "militaristischen Potentials" wurde dem schweren Suchen und mühevollen Herstellen einer sinnvollen friedlichen und nicht militärischen Nutzung vorgezogen.

Bezeichnend das eben dieser "revolutionäre" Bürgermeister kurze Zeit später das Land verließ und nach dem "Westen" ging, da er, besser seine Frau, die materiellen Bedingungen in der "neuen demokratischen Ordnung", die er selbst mit zu verantworten hatte, nicht mehr aushielt .

Das Unverständnis und die Abneigung von vielen Menschen gegen das "Neue" wurde dadurch nur noch größer.

Einzig das ehemalige Zeugamt des Flughafens bekam durch einige "Aktivisten der ersten Stunde", wie sie später genannt wurden, als "Neutrowerk", in dem auch einige aus dem Dorf arbeiteten, wieder Leben eingehaucht.

Die Kommandantur wurde auch als Altersheim und Teil des Städtischen Krankenhauses umgebaut und genutzt.

Aufgrund des meist bestehenden Dunstes konnte man diese Gebäuden, die zudem von den hohen Pappelgehölzen der Kiebitzhöhe verdeckt wurden, recht selten sehen, eher erahnen.

 

Hob man den Blick, sah man in der Ferne wieder den Buchenwald.

Der Ort "Buchenwald" wurde immer mit Unbehagen, vielleicht auch Bedrückung oder Angst ausgesprochen, viel stärker als der Name solcher Orte, wie "Kammerforst" oder "Lossa".

Das war das Sperrgebiet, beziehungsweise der Standort der "Russen", in der Nähe des Dorfes.

Das waren die Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, die durch die aufgestellten oder an den Bäumen angebrachten Schilder " Стой ! - Halt !", darunter "Стреляют ! - Es wird geschossen! " gekennzeichnet waren.

Das konnte aber beim Holz sammeln oder Himbeeren pflücken schon mal pasieren.

Aber außer Schreckensgeschichten, die sich die Frauen im Laden erzählten, kann ich mich an keinen ernsthaften Zwischenfall erinnern.

Erinnern kann ich mich an eine Episode, als einige Frauen mit uns Kinder beim Himbeeren sammeln unverhofft auf Russen mit Maschinenpistolen stießen, die dann in die Luft schossen und sich wie die Kinder freuten, wie alle, fast über die eigenen Beine stolpernd sich durch das stachlige Himbeergebüsch schlugen, dabei über die morschen am Boden liegenden äste stürzten, außer auf das eigene Leben bedacht auch die wertvollen Früchte im Eimer oder Kannen retten wollten, voller Angst nach Hause eilten.

Dieser Ort wurde in den folgenden Jahren angstvoll gemieden.

 

Buchenwald mußte viel schlimmer sein.

Erst in der Schule, durch das Buch und den Film "Nackt unter Wölfen ", den Besuch der später errichteten Gedenkstätte in Vorbereitung auf die Jugendweihe Anfang der 60iger Jahre wurde mir einiges von der schlimmen Geschichte, von der Angst, der Betroffenheit und Bedrückung, die dieser Ort hervorrief, bewußt, wenn auch, wie man heute feststellen muß, nur in der einseitig "antfaschistischen Tradition".

Die andere, auch schreckliche, Seite Buchenwalds wurde uns aber durch Erfahrungen aus dem unmittelbaren Leben in der Nachkriegsgesellschaft schon bewußt, wenn auch nur verdeckt und nie öffentlich.

 

Nun aber genug geschaut und ausgeruht.

Wir verlassen das Plateau des Beichlinger Berges und nun geht es langgestreckt den Berg ins Dorf hinunter.

 

Aus dem gesammelten Holz wurden geeignete Stangen als Bremshebel ausgewählt, mit denen rechts der Vater und links der große Bruder nun nicht mehr als "Zugpferde", sondern als Bremser den schweren Handwagen in der Gewalt halten mußten.

Die Bremsstangen wurden zwischen Kastenholm, den Stahlreifen der Wagenräder und den eisernen Radbügel gesteckt und nun mußte der notwendige Druck auf die Stahlreifen der Räder ausgeübt werden, um die Schrittgeschwindigkeit beim Herunterfahren zu halten.

Der mittlere Bruder setzte sich auf den Lenkschemel und nahm die Deichsel zwischen die Füße, um damit zu lenken.

Ich als jüngster durfte nur nebenher laufen oder, wenn die Holzfuhre nicht zu hoch war, durfte ich mich oben drauf setzen.

Die Mutter mußte zur Sicherheit die Deichsel noch in die Hand nehmen, was aber immer den energischen Protest des "Lenkers" nach sich zog.

Meine Mutter führte die Deichsel ganz behutsam, um dem Bruder nicht das Gefühl zu nehmen, daß er Lenker und Herr über den Wagen war..

Nun ging es ohne eigene Kraft aufzuwenden mit der maximal möglichen Schrittgeschwindigkeit schnell hinab ins Dorf.

Nur der kleine Anstieg des auslaufenden Roßberges mußte noch überwunden werden&xnbsp; und schon waren wir an Dorfeingang, am Burgwendener Weg.

Welch ein Gefühl ohne eigene Kraft nur durch die Gegebenheiten der Natur und Landschaft nach den Gesetzen der Physik schnell und leicht nach Hause zu kommen und einen Beitrag für das überleben, für das Wohlbefinden in kalten Tagen geleistet zu haben.

 

Wir waren wieder im Dorf., wir waren zu Hause.

 

zu den Dorfgeschichten